"Biontech will schon in den kommenden Wochen die Zulassung seines Impfstoffs für Kinder im Alter zwischen fünf und elf Jahren beantragen. Sollen sich die Jüngsten dann impfen lassen?
Wir müssen die Studiendaten abwarten. Wenn da aber keine unerwarteten Überraschungen kommen, was ich glaube, dann denke ich, dass der Vorteil der Impfung das Erkrankungsrisiko auch in dieser Altersklasse überwiegen wird. Ich persönlich würde in so einem Fall die Impfung der natürlichen Infektion auch bei Kindern vorziehen.
Warum? In der Schweiz sagen die Gesundheitsbehörden und auch die meisten Ärzte, Corona sei für Kinder harmlos.
Die meisten Kinder, die an Covid erkranken, sind nur leicht krank oder merken nichts davon, das stimmt. Aber eben nicht alle. Und dann gibt es Langzeitfolgen wie Pims und Long Covid, und vielleicht noch andere Komplikationen, die wir noch nicht kennen, da die am längsten dokumentierten Infektionen bei Kindern erst etwas mehr als eineinhalb Jahre her sind.
In Grossbritannien hat die britische Impfkommission überraschend keine Empfehlung für Corona-Impfungen von 12- bis 15-jährigen Kindern abgegeben. Wie beurteilen Sie den Entscheid?
Grossbritannien steht da recht allein im Vergleich zum Rest der Welt. Mittlerweile wurden weltweit schon Millionen Jugendliche geimpft und es zeigt sich, dass das Risiko einer Impfkomplikation wie beispielsweise eine Herzmuskelentzündung geringer ist als Schäden nach einer Corona-Infektion. Ich glaube, der Knackpunkt hier ist, dass die grossen Impfgremien ihre Entscheidungen normalerweise nicht in einer Pandemie unter Zeitdruck treffen müssen, sondern sie jahrelang Zeit haben, beobachten und Daten auswerten können. Solange man etwas nicht empfiehlt, kann man natürlich auch nicht haftbar oder angreifbar dafür gemacht werden.
Haben Sie Verständnis für Eltern, die ihre Kinder «off Label» impfen lassen wollen, also auf eigene Verantwortung ohne Zulassung?
Ich habe Verständnis für die Eltern, die das tun, es zeigt die Verzweiflung angesichts der Untätigkeit und Überforderung der Entscheidungsträger an den Schulen. Ohne die ausstehenden Studiendaten kennt man allerdings die optimale Impfdosis noch nicht, um einen guten Schutz zu erzielen, und auch das Nebenwirkungsprofil in der Altersgruppe ist unbekannt. Bei Kindern, die 10 oder 11 sind, kann man da vielleicht noch von den Daten der 12- bis 17-Jährigen extrapolieren, bei den Kleinen geht das nicht mehr. Es ist einfach eine ganz unglückliche Situation. Ich hätte mir gewünscht, dass zumindest die Studiendaten veröffentlicht sind, bevor wir ins zweite Halbjahr gehen, oder dass man sich ganz klar zum Schutz der Kinder ausspricht, bis man die Impfung zur Verfügung hat.
An den Schweizer Schulen explodieren die Corona-Ansteckungszahlen. Dramatisch ist es in der Altersklasse 0 bis 9, dort liegen die Infektionen bereits dreimal höher als beim Pandemie-Höhepunkt.
Ich bin immer wieder überrascht, dass man es erst so weit kommen lassen muss, bevor man das Problem erkennt. Dass Kinder sich anstecken und das Virus weitertragen, das wurde unter den allermeisten Wissenschaftlern schon Anfang 2020 als sehr wahrscheinlich angesehen. Vieles, was in der Öffentlichkeit kommuniziert wurde, war mehr Wunschdenken als Wissenschaft. Dass wir mit Delta ein ganz massives Problem bekommen an den Schulen, zeichnet sich seit Monaten ab. Die Sommerferien blieben ungenutzt, um sich darauf vorzubereiten. Es gäbe viele Massnahmen, um den Schulunterricht sicherer zu gestalten und Ansteckungen zu minimieren. So sollten sich die Erwachsenen impfen lassen und auch Masken in den Schulzimmern sind zu empfehlen. Zudem hilft repetitives Testen, Ausbrüche einzudämmen, auch Lüften mithilfe von CO₂-Sensoren in Kombination mit Luftfiltern ist nützlich. Halbklassen, Unterricht an der frischen Luft, gute Kommunikation und Aufklärung wären ebenfalls hilfreich. Viele glauben immer noch, regelmässiges Händewaschen allein reiche für den Infektionsschutz.
Die Kantone agieren sehr unterschiedlich, intervenieren nicht und scheinen das Problem den Schulgemeinden zu überlassen. Ist das ein Fehler?
Ja, ich denke, man hätte hier schon 2020 einheitliche Empfehlungen ausgeben sollen. Ich glaube, dass die Schulen ja auch gar nicht unbedingt die Kapazität oder das Detailwissen haben, um richtig zu reagieren. Die Flut an Daten, die man da überblicken muss, ist riesig, man hätte hier eine Expertengruppe zusammenzustellen sollen, die entsprechende Empfehlungen erstellt und überarbeitet, sobald es neue Erkenntnisse gibt, und die den Schulen hilft, das pragmatisch umzusetzen.
Covid kann auch für Kinder gefährlich sein, wir wissen nur nicht genau, in welcher Häufigkeit. Warum wird die Durchseuchung in der Schweiz trotzdem zugelassen?
Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Viele Länder sehen das nicht so unbekümmert wie die Schweiz. In den USA sprechen sich die grossen pädiatrischen Fachgesellschaften ganz massiv für den Schutz an den Schulen aus, Masken werden da für ungeimpfte Kinder schon ab 2 Jahren empfohlen. Ich glaube aber, in einigen Kantonen ist die Situation jetzt so entgleist, dass man wahrscheinlich einfach nur noch ratlos ist und auf so etwas gar nicht vorbereitet war.
Was wäre die Alternative?
Es ist ganz wichtig, dass man nicht immer nur Durchseuchung oder Schulschliessung als die einzigen zwei Möglichkeiten gegenüberstellt. Man muss die Schulen unbedingt offen lassen, aber in einem möglichst normalen Umfeld. Nun ist zwar alles offen, aber die Schüler sind ständig mit Isolation, Quarantäne, kranken Mitschülern und vielen weiteren Unsicherheiten konfrontiert. Viele der Schutzmassnahmen schaden ja dem Kindeswohl nicht, ich glaube kaum, dass ein Kind sich am Lüften, an Luftfiltern, an den Spucktests oder an der Impfung des Lehrpersonals stört.
Kontrovers diskutiert werden die Aussagen von Christoph Berger, dem obersten Impfchef der Schweiz, er möchte Schulkinder nicht mehr in Quarantäne schicken und hält Long Covid bei ihnen für ein geringes Problem, auch Masken brauche es nicht. Teilen Sie diese Meinung?
Ich ordne mich da eher bei der vorsichtigen Gruppe ein, wir kennen diese Virus noch zu wenig, um es als harmlos anzusehen, und wir haben bald eine Impfung. Und: Der Schutz an den Schulen ist ja möglich. Klar, das kostet Geld und macht Mühe, aber es geht, das sehen wir in anderen Ländern.
Eine aktuelle und viel zitierte Studie zeigt, dass 2 bis 14 Prozent der Kinder an Long Covid erkranken. Obwohl selbst 2 Prozent häufiger wären als Lähmungskomplikationen nach einer Polioinfektion, hat man die Daten in Grossbritannien mit Erleichterung aufgenommen. Können Sie sich das erklären?
Nein, das kann ich mir nicht erklären. Wenn sich über den kommenden Winter ein Grossteil der Kinder infiziert und 2 Prozent davon zumindest temporär Long Covid bekommen, dann ist das eine riesige Anzahl von Betroffenen. Wir haben in unserer Klinik aufgrund der grossen Nachfrage jetzt schon eine Long-Covid-Ambulanz speziell für Kinder eingerichtet. Ich glaube nicht, dass man das den Kindern leichtfertig zumuten sollte.
Viele Eltern fühlen sich ohnmächtig. Was können sie tun, um ihre Kinder vor einer Infektion zu schützen?
Bei schulpflichtigen Kindern kann man leider nicht viel tun, wenn die Entscheidungsträger keine Verantwortung für den Infektionsschutz übernehmen wollen. Klar, man sollte sich als Eltern impfen lassen, damit man wenigstens selbst nicht erkrankt, und man kann das Kind bereits mit leichten Krankheitssymptomen zum Schutz der anderen zu Hause lassen. Ich kann dieses Gefühl der Ohnmacht gut nachvollziehen.
Obwohl sich inzwischen weltweit Millionen Kinder infiziert haben und wir über modernste Forschungsmittel verfügen, ist immer noch nicht befriedigend geklärt, wie hoch das Gesundheitsrisiko für sie wirklich ist. Wie kann das sein?
Es ist eben gar nicht so einfach, diese Daten zu erheben. Wir haben in den verschiedenen Wellen unterschiedliche Virusvarianten gesehen. Kinder werden aufgrund der milden oder fehlenden Symptomatik stark unterdiagnostiziert. Die Gesundheitssysteme und der Gesundheitszustand der Bevölkerung in den verschiedenen Ländern unterscheiden sich stark. Und es wurde überhaupt nicht als Priorität bei der Forschungsförderung angesehen. Ich habe mit meiner Kollegin Silvia Stringhini seit dem Beginn der Pandemie um Forschungsgelder gekämpft, um Ausbrüche unter Kindern untersuchen zu können. Wir analysieren nun seit dem letzten Schuljahr Daten der Altersgruppe 2 bis 6 Jahre, diese bereiten wir gerade zu einer Publikation vor.
Im letzten Winter ist die Grippesaison wegen der Massnahmen praktisch ausgefallen. Auch Erkältungsviren zirkulierten wenig. Müssen wir uns Sorgen machen, dass die in geballter Kraft nun alle zusammen zurückkommen?
Ja, ich denke, wenn wir die Schutzmassnahmen mit steigender Impfrate weiter lockern, dann werden die anderen Erreger wieder zurückkommen. Das wird auch die Corona-Testsituation verkomplizieren, wenn es dann viele symptomatische Erkrankungen gibt, die nicht Covid sind. Kommt eine Influenzasaison mit voller Wucht zurück, oder braucht die Grippe nun etwas Zeit, um wieder eine Winterwelle wie vor Corona aufzubauen? Ich kann dazu auch nur spekulieren, weil wir eben noch nie in so einer Situation waren.
Wie gefährlich sind Ko-Infektionen mit Covid-19?
Dazu können wir im Moment wenig sagen. Wir und andere haben Laborstudien dazu durchgeführt, da haben wir gesehen, dass die antivirale Antwort auf einen saisonalen Erreger die Vermehrung von Sars-CoV-2 hemmen kann, aber nur, wenn diese Infektion kurz vor der Corona-Infektion stattfand. Beim umgekehrten Fall haben wir keinen solchen Effekt gesehen. Ob das in der echten Welt einen relevanten Effekt auf die Epidemiologie haben wird, sei dahingestellt. In den USA wurden bei Kindern viele Ko-Infektionen mit RSV und Sars-CoV-2 beobachtet. Inwiefern Sars-CoV-2 da aber den Verlauf der RSV-Infektion beeinflusst oder umgekehrt, ist nicht klar. Wir sollten aber bedenken, dass im Falle einer Influenza- oder RSV-Welle bei uns auch dafür noch Spital-Kapazitäten frei bleiben sollten. Ein Grund mehr, das Corona-Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten, und sich gegen Grippe impfen zu lassen.
Sie sind Anhängerin eines Null-Covid-Ziels, ist das mit Delta überhaupt noch realistisch?
Die Strategie heisst No-Covid und hatte nie «null» Corona-Infektionen zum Ziel, sondern strebte eine sehr niedrige Inzidenz an, um die Zeit bis zur Impfung zu überbrücken. Das Konzept hatte zum Ziel, die Schäden durch die Pandemie so gering wie möglich zu halten, um sowohl Infektionen als auch dadurch bedingte Schliessungen (Schulen, Lockdowns usw.) möglichst zu vermeiden. Das war noch in einer Zeit vor Delta, damals war das, um Zeit bis zur Impfung zu gewinnen, durchaus eine gute Strategie.
Australien bringt die Pandemie trotz kompletter Abschottung und Lockdown nicht mehr unter Kontrolle. Dafür erhält das Land viel Häme. Ist der Weg Australiens oder Neuseelands gescheitert?
Beide Länder hatten in den letzten eineinhalb Jahren wenig Ansteckungen, wenig Tote und praktisch keine Long-Covid-Fälle zu beklagen, und sie genossen gleichzeitig viel mehr Freiheiten als wir. Australische Kollegen haben mir von ihren Barbecues, von ihren Weihnachtsfeiern mit der Familie, von ihrem normalen Schulbetrieb und ihren Restaurantbesuchen erzählt, während wir hier von Welle zu Welle geschlittert sind. Es gibt viele Gründe, warum das dort vielleicht besser funktioniert hat als hier, aber man muss diesen Ländern eines lassen, sie haben schnell reagiert und lange davon profitiert. Mit Delta wird es nun selbst für diese Länder schwierig, zumindest für Australien, Neuseeland scheint bereits wieder die Oberhand über das Virus zu gewinnen. Statt Häme frage ich mich aber eher, wie wir dann die Pandemie in den Griff bekommen sollen, wo ja schon die Prä-Delta-Varianten, die viel weniger ansteckend waren, nicht mehr kontrolliert werden konnten. Und Australien und Neuseeland haben einen Vorteil: Sie haben sich Zeit erkämpft. Denn es gibt jetzt Impfungen, es gibt bessere Behandlungen, es gibt viel mehr Wissen über das Virus.
Vor einem Jahr konnte sich kaum jemand vorstellen, dass wir im Spätsommer 2021 noch immer so tief im Schlamassel stecken würden. Was ist schiefgelaufen?
Auch ich habe mich da ziemlich geirrt. Ich bin noch 2020 davon ausgegangen, dass wir Ende 2021 aus der Pandemie raus sind. Das ist ein vielschichtiges Problem: Wir verfügen über eine sehr gute Impfung, aber es herrscht trotzdem viel Skepsis und es zirkulieren zahlreiche Falschinformationen diesbezüglich. Wir haben es nicht nur mit der Corona-Pandemie, sondern auch mit einer «Infodemic» zu tun, die genauso bekämpft werden muss wie die Viruspandemie. Andererseits hat auch niemand mit einer solch ansteckenden Variante wie Delta gerechnet. Speziell in der Schweiz habe ich das Gefühl, man ist immer von einem Best-Case-Szenario ausgegangen und hat sich deswegen nicht vorbereitet auf das, was kommen könnte, wenn es eben nicht so gut läuft. Nach jeder Welle hat man suggeriert, jetzt ist es vorbei, und dann wurde man immer wieder überrascht. Und, leider: Die Stimme der Wissenschaft wurde mehr als einmal ignoriert.
Es ist erschreckend, mit welcher Heftigkeit die Menschen auf Twitter auf Ihre Aussagen reagieren. Wie gehen Sie damit um?
Die Pandemie hat viele hässliche Seiten in den sozialen Medien ans Licht gebracht, am Erschreckendsten ist aber, wie leicht sich Falschinformationen verbreiten, die sogar Menschenleben kosten. Wer versucht, gegen diese Flut anzukämpfen, der wird natürlich selbst angegriffen. Da ich inzwischen recht viele Follower habe und auch sonst beruflich und privat mehr als ausgelastet bin, lese ich die Kommentare meistens gar nicht mehr. Und: Ich bekomme viele positive Rückmeldungen in Form von persönlichen Nachrichten, E-Mails, Briefen oder Postkarten, mit denen sich Menschen bei mir bedanken. Das freut mich sehr und wiegt die Angriffe um ein Vielfaches wieder auf."